Als Bühnenbild ein raumhohes Foto von einem Baum, hoher Stamm, ganz oben ein paar Äste, keine Blätter. Schlicht. So auch die Setlist, zumindest laut Konzept. Kae Tempest wird das neuste Album «The Line Is A Curve» einmal durchspielen «und älteres Material hinzufügen», wie Tempest vor dem Konzert erklärte.
Das Publikum hat sich auf den Tribünenplätzen eingerichtet. Die Hausregeln besagen, dass die Stühle während des Konzerts aus Sicherheitsgründen nicht verlassen werden dürfen. «Do what the fuck you want» (macht, was zur Hölle ihr wollt), fordert Kae Tempest das Publikum jedoch auf. Und damit sei kein Hände-in-die-Luft gemeint – «das ist nicht so mein Style». Jede und jeder solle sich frei fühlen, aufzustehen, die Reihen zu verlassen, zu tanzen.
Als würde sich ganz langsam ein Dinosaurier nähern, poltert kurz darauf der Bass des Openers auf den Bühnenboden. Ab jetzt wird Kae Tempest nur noch durch Songs sprechen, der notabene sehr unterhaltsame Plauderteil ist vorbei. Das Konzert startet mit «Priority Boredom», einer mit apokalyptischem Sound untermalten Suche nach innerem Frieden in einer Welt von Reizüberflutung, Stress, Depression.
Mit dieser Stimmung knüpft Kae Tempest an die früheren Alben «Let Them Eat Chaos» und «Everybody Down» an, die insbesondere von den Einflüssen eines düsteren Londons auf die menschliche Seele handeln. Aber auch vom Weltgeschehen überhaupt. Doch wer das 2019 erschienene «The Book of Traps and Lessons» und «The Line Is A Curve» (2022) kennt, der weiss: er wird hoffnungsvoller.
Was lässt sich über ein Konzert schreiben, das eine angekündigte Livepräsentation eines Albums ist, welches wohl die meisten Anwesenden kennen? Dass diese Entscheidung Mut braucht, weil in der Regel von einem unambitionierten Runterrattern die Rede ist, wenn Bands an Konzerten ihre Platten abspulen? Oder riskant, weil der Abend nicht aus Hits besteht, sondern das Gesamtwerk ins Zentrum stellt?
Kae Tempest ist keine Popband, sondern einer der grössten Namen im Rap, der Literatur, der Poesie, des Theaters. Niemand besucht ein Kae-Tempest-Konzert, um die bekanntesten Radionummern zu hören – wobei sich «Salt Coast» an diesem Abend gemessen an den Publikumsreaktionen als so etwas wie ein Lieblingshit erweist.
Eine Tempest-Show ist immer eine Momentaufnahme. Ein einmaliges Zusammenspiel mit dem Publikum, ein Happening, das nicht existiert bis es begonnen hat und das sich in Luft auflöst, wenn es fertig ist.
Eine Tempest-Show ist ausserdem eine Gelegenheit, ein Album auch nach dutzendfachem Durchhören noch einmal neu kennenzulernen, besser zu verstehen. So ist live etwa weniger zentral, dass die von Multiinstrumentalistin Hinako Omori performte Musik sowie die Texte vom ersten bis zum letzten Song immer weicher und zuversichtlicher werden.
Viel zentraler ist die Präzision, mit der Kae Tempest Texte mal rappt, mal singt, mal beinahe ausspuckt, mal mit Ruhe und einem Lächeln im Gesicht vorträgt. Noch offensichtlicher auch deren Schönheit. «Grace», der letzte Song auf «The Line Is A Curve» ist ein tief berührendes Lied voller Weisheiten über die Liebe. Die Liebe zwischen zwei Menschen und die Liebe zu sich selbst.
Der Text handelt davon, in die Vollen zu gehen, offen zu sein in seiner Persönlichkeit und seinen Gefühlen. Wenn man sein Inneres nach Aussen kehrt, wird einen das Offenbarte retten, wenn man sein Inneres nicht offenbart, wird einen das Unterdrückte zerstören, heisst es etwa.
Was die Aussage in diesem Livemoment so besonders stark und wirkungsvoll macht, ist die Tatsache, dass er für die ganze Entwicklung von Kae Tempest in den letzten Jahren steht. Dafür, dass sich die Person, die sich seit 2020 als non-binär bezeichnet, von ihren Zwängen befreit hat; dass sie heute Veränderungen sieht, wenn diese auch im Schneckentempo passieren, dass sie Liebe spürt und Liebe gibt und manchmal «für immer leben, für immer leben, für immer leben» möchte, wie Tempest im zweiten Teil des Konzerts sagt.
Und Kae Tempest möchte auch, dass, die ihr Schicksal teilen, auch so leben, wie es ihnen gefällt. «Firesmoke» vom Album «The Book of Traps and Lessons» (2019), ein Song über Liebe und die Freiheit, richte sich an alle queeren und non-binären Menschen: «Ich will, dass ihr lebt, ich liebe euch.»
Und weil eine Kae-Tempest-Show vor allem darin besteht, Tempest von Anfang bis Schluss an den Lippen zu hängen, ist bis zum Schluss kaum aufgefallen, dass viele Zuschauerinnen und Zuschauer längst aufgestanden sind und tanzen.
(SDA)