Was uns vorwärtsbewegt
Eine kleine Geschichte der Energie

Vom wenig robusten Säugetier zur beherrschenden Spezies des Planeten: Die Menschheit hat es auf der Erde weit gebracht. Möglich war dieser Aufstieg nur, weil wir unseren unersättlichen Hunger nach Energie mit immer neuen Entdeckungen stillen konnten.
Publiziert: 13.11.2022 um 17:34 Uhr
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Aktualisiert: 13.11.2022 um 17:46 Uhr
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Feuer, betrieben mit Holz, war die erste energetische Revolution der Menschheit, so der Umwelthistoriker Vaclav Smil.
Foto: keystone-sda.ch
Joel Bedetti

Heizung runter, Wolldecke hervorholen. Oder gar abends stundenweise dunkle Quartiere, weil der Strom so knapp wird?

Zwar klingen die Warnungen des Bundes bezüglich Energielücken nicht mehr so schrill wie noch vor Wochen. Trotzdem hat uns die Gefahr einer Energielücke einen Zustand in Erinnerung gerufen, in dem die Menschheit auch in Europa die längste Zeit ihrer Existenz zubrachte: eine Welt, in der Energie Mangelware ist. Unsere Geschichte, die uns aus Schule und Fernsehen vor allem als Abfolge von Königen und Kriegen bekannt ist, ist auch die Geschichte unserer konstanten Gier nach Energie – und des Zwangs, immer mehr davon zu produzieren. Gerade suchen Vertreter von mehr als 190 Ländern an der UN-Klimakonferenz in Sharm el-Sheikh (Ägypten) nach Lösungen, wie dies geschehen kann, ohne den Planeten zu zerstören.

Der kanadische Umwelthistoriker Vaclav Smil (78) hat zur Energiegeschichte das Standardwerk «Energy and Civilization» verfasst. Dass ein nicht sonderlich beeindruckendes Säugetier wie der Mensch in der Evolution nicht irgendwo in der Mitte der Nahrungskette hängen blieb, sei einer energetischen Revolution geschuldet: der Entdeckung des Feuers. Sie erlaubte es den Menschen, Fleisch zu braten und so massiv weniger Energie bei der Verdauung zu verlieren. In der Folge bildete sich der Darm zurück, das Hirn wuchs – und damit die Fähigkeit zur Kommunikation und zur Planung.

Letztere führte vor rund 10'000 Jahren zur nächsten Energie-Umwälzung: der neolithischen Revolution. Im Kern war sie ein gigantisches Sonnenenergie-Projekt, welches das Gesicht der Erde verwandelte. Riesige Waldflächen wurden gerodet, um darauf Getreide anzubauen. Der Ackerbau produzierte mehr Kalorien, als zu seiner Herstellung nötig war; die ersten Hochkulturen mit Arbeitsteilung entstanden. Die Ägypter nutzten die überzählige Muskelkraft Tausender Menschen dazu, Pyramiden für ihre Pharaoninnen und Pharaonen zu bauen.

Zu wenig Power für den Franzosen-König

Der Ackerbau wurde zwar dank von Ochsen gezogenen Pflügen produktiver – doch die meiste Arbeit wurde noch immer von menschlicher Muskelkraft erledigt. Das änderte sich mit den Wassermühlen. Die tauchten zwar schon vor Christus im vorderen Orient auf, aber erst die Europäer des Mittelalters erkannten ihr hydroenergetisches Potenzial und setzten sie flächendeckend ein. Mit Erfolg. Nach Vaclav Smil produzierte eine Wassermühle mit zehn Arbeitern genug Mehl für 3500 Menschen, davor waren dafür 250 Personen notwendig.

Bald wurden Mühlen auch zur Papierherstellung und Metallverarbeitung genutzt, die ersten Kraftwerke entstanden. An der Seine liess der französischen König Louis XIV. im 18. Jahrhundert 14 riesige Wassermühlen bauen. Doch sie produzierten nur 52 Kilowatt, nicht genug, um alle 1400 Brunnen und Fontänen in seinem Palast in Versailles zu bewässern. Auch der Sonnenkönig musste sich mit so viel Energie begnügen, wie heute eine Photovoltaikanlage auf einem mittleren Bürogebäude produziert.

Für die einfachen Europäer des Mittelalters und der frühen Neuzeit war Energie noch rarer. Weil Holz die einzige Heizressource und stets knapp war, schliefen Bauernfamilien oft mit ihren Tieren im selben Raum, auch um deren Abwärme zu nutzen. Getreide wurde oft zu Brei verarbeitet statt zu Brot, denn Backen verbrauchte viel wertvolles Feuerholz. Essen war noch immer so knapp, dass Kriege und Missernten meist direkt in die Hungersnot führten. Die Menschheit brauchte einen Befreiungsschlag.

Silicon Valley im Kohlebergwerk

Der begann mit ökologischem Missmanagement. England war schon im 16. Jahrhundert ein prosperierendes Land mit regem Schiffbau, aber kleinem Waldbestand. Bald war die Gegend um London gerodet, eine Alternative musste her. Die war in England zum Glück so im Überfluss vorhanden, dass sie fast aus der Erde kroch: Kohle, versteinerte Urzeit-Wälder mit der doppelten Energiedichte von Brennholz.

Doch erst mussten die feinen Londoner vom neuen Energieträger überzeugt werden. Denn der hüllte die Häuser in dichten Smog und konnte nur durch den Umbau der damals üblichen offenen Feuerstelle zum Kamin kontrolliert werden. Erst als 1603 der neue Briten-König James VI. aus dem noch waldärmeren Schottland, wo bereits fossil geheizt wurde, im Westminster Palace Kohle zu verfeuern begann, zogen die Londoner nach. Ähnlich heutigen Hausbesitzern, die auf Wärmepumpe oder Solardach umstellen, rüsteten sie ihre Häuser auf den neuen Energieträger um.

1890 war Umweltverschmutzung noch kein Thema, wie diese Fabrik in Pennsylvania (USA) zeigt.
Foto: Bettmann Archive

Bald war der Konsum so hoch, dass tief unter Tage abgebaut werden musste. Eine schweisstreibende Angelegenheit: Grundwasser musste abgepumpt, Frischluft zugeführt werden. Doch die englischen Kohlenminen wurden zu so etwas wie dem Silicon Valley des 19. Jahrhunderts: einem Innovationszentrum, der die ganze Gesellschaft vorantrieb. Dampfmaschinen lösten Muskelkraft ab, die Eisenbahn wurde erfunden, um auf Schienen Kohle aus den Stollen zu den Schiffen zu bringen.

Erst Kohle und Dampfmaschine, so der Umwelthistoriker Vaclav Smil, ermöglichten zu Beginn des 19. Jahrhunderts den «Take-off» der Menschheit: den Start in die Moderne.

Dampf lässt Raum schrumpfen, Strom dehnt die Zeit aus

In den immer zahlreicheren Fabriken bewegten die zischenden Dampfmaschinen riesige Apparaturen, Menschen schaufelten bloss noch Kohle in deren Bäuche. Das veränderte alles. Noch 1834 bedurfte es in St. Petersburg 1700 Männer, um eine 600-Tonnen-Säule zum Sieg über Napoleon aufzurichten, ähnlich viel Manpower, wie die Ägypter, die Jahrtausende zuvor Steinblöcke zu den Pyramiden geschleppt hatten. Ein halbes Jahrhundert später hoben dampfbetriebene Kräne mühelos Stahlträger in den Himmel über Chicago und New York, wo die ersten Wolkenkratzer gebaut wurden.

Der Erfinder der Glühbirne: Thomas A. Edison (1847-1931) in seiner Bibliothek.
Foto: Bettmann Archive

Dampf erzeugte bald auch eine neue, unsichtbare Energie: Strom. 1879 erfand der Amerikaner Thomas Edison die erste Glühbirne. Schon sie strahlte zehnmal heller als eine herkömmliche Gaslampe. War der Pflug über Jahrhunderte und die Dampfmaschine über Jahrzehnte entwickelt worden, dauerte es nun bloss wenige Jahre, um vom Transformator bis zum Wechselstrom alles Nötige zu erfinden, damit Elektrizität grossflächig eingesetzt werden konnte. Bereits in den 1880er-Jahren erstrahlten die ersten Städte in Europa und den USA abends in der Dunkelheit.

Eröffnung der Gotthardbahnlinie 1882. Die erste Gotthardbahn-Dampflokomotive vor dem Bahnhof Göschenen.
Foto: Keystone

Die atemberaubend schnelle Eisenbahn und die Dampfschiffe liessen die Welt zusammenschrumpfen, das künstliche Licht zog den Tag beliebig in die Länge. Hatte die Arbeit früher mit Sonnenaufgang begonnen und mit Sonnenuntergang geendet, veränderten sich nun Tagesabläufe, zu sehen etwa an zeitgenössischen Prominenten und Künstlern: Dichter Goethe und Komponist Beethoven standen im vorindustriellen 18. Jahrhundert bei Tagesanbruch auf und gingen abends zeitig zu Bett. Im frühen 20. Jahrhundert hingegen malte Lebemann Picasso mitten in der Nacht; Franz Kafka schrieb nach Feierabend, wenn er von der Arbeit in einer Prager Versicherung zurückgekehrt war.

Der New Yorker Broadway in den 20er-Jahren. Wurde durch seine Theater weltberühmt.
Foto: Getty Images
Die Schweiz, das Land der «weissen Kohle»

Von wegen keine Rohstoffe: Vor der Entdeckung fossiler Energie war die Schweiz ein ressourcenreiches Land. Viel Wasser und Wald sorgten für viel Energie und halfen dabei, dass sich die Schweiz auch ohne eigene Kohle so rasch industrialisierte wie kaum ein anderes Land in Kontinentaleuropa. Im Ersten Weltkrieg zeigte sich aber, wie fatal die Abhängigkeit von fossilen Brennstoffen war: Der internationale Handel brach ein, Kohle war kaum noch zu kriegen. Nach dem Krieg setzte die Schweiz deshalb voll auf Strom aus Wasserkraft, elektrifizierte die SBB und versuchte, die an Kohle gewöhnten Konsumenten von der «weissen Kohle» zu überzeugen. Trotzdem ging es nicht ohne die schwarze Importenergie. Als im Zweiten Weltkrieg Adolf Hitler die Schweiz dazu bringen wollte, ihre Industrie in Deutschlands Dienst zu stellen, drohte er mit einem Kohle-Embargo. Es wirkte, die Schweiz lenkte ein. Die Alternative wäre ein Rückfall ins Zeitalter von Holz und Pferden gewesen.

In der Zeit nach dem Ersten Weltkrieg baute die Schweiz die Wasserkraft massiv aus. Hier ein Werk in Eglisau im Kanton Zürich, das 1920 in Betrieb genommen wurde.
Sven Thomann

Von wegen keine Rohstoffe: Vor der Entdeckung fossiler Energie war die Schweiz ein ressourcenreiches Land. Viel Wasser und Wald sorgten für viel Energie und halfen dabei, dass sich die Schweiz auch ohne eigene Kohle so rasch industrialisierte wie kaum ein anderes Land in Kontinentaleuropa. Im Ersten Weltkrieg zeigte sich aber, wie fatal die Abhängigkeit von fossilen Brennstoffen war: Der internationale Handel brach ein, Kohle war kaum noch zu kriegen. Nach dem Krieg setzte die Schweiz deshalb voll auf Strom aus Wasserkraft, elektrifizierte die SBB und versuchte, die an Kohle gewöhnten Konsumenten von der «weissen Kohle» zu überzeugen. Trotzdem ging es nicht ohne die schwarze Importenergie. Als im Zweiten Weltkrieg Adolf Hitler die Schweiz dazu bringen wollte, ihre Industrie in Deutschlands Dienst zu stellen, drohte er mit einem Kohle-Embargo. Es wirkte, die Schweiz lenkte ein. Die Alternative wäre ein Rückfall ins Zeitalter von Holz und Pferden gewesen.

Petro-Power bestimmt den Kriegsverlauf

Natürlich schafften es die Menschen auch, die neu freigesetzte Energie mit aller Kraft gegen sich selbst zu verwenden. Im Ersten Weltkrieg, der in den energetischen Boom hineinplatzte, realisierte die Menschheit, dass das industrielle Zeitalter auch industrielles Töten mit sich brachte. Maschinengewehre und schnell feuernde Kanonen metzelten die Angriffe von Fusstruppen und Kavallerie nieder.

Auf makabre Weise offenbarte sich die Schwäche der klobigen Dampfmaschine: Sie liess sich nur auf Schienen oder im Wasser bewegen. Schnell breiteten sich auf den schlammigen Schlachtfeldern Nordfrankreichs deshalb neue Fahrzeuge mit handlichem Verbrennungsmotor aus: Lastwagen transportierten unermüdlicher als Pferde, der Panzer beendete als mechanisierte Kavallerie den Stellungskrieg. Betrieben wurden sie von einem neu entdeckten fossilen Brennstoff, der Kleinstlebewesen auf dem Grund früherer Gewässer entstammte und noch energiedichter als Kohle war: Erdöl.

In der Erschöpfung nach dem Krieg hatten jedoch nur die aufstrebenden USA genügend industrielle Power und auch genug eigene Ölfelder, um dem Auto zum Siegeszug zu verhelfen. Die US-Landwirtschaft wurde mechanisiert, in Detroit lief das berühmte Model T von Ford von den ersten Fliessbändern. Die ungleich verteilte Petro-Power, sagt der israelische Militärhistoriker Martin van Creveld (76), entschied auch den Zweiten Weltkrieg: Die deutsche Armee, hinter deren Panzerspitzen vor allem Pferde trabten, blieb in den Weiten Russlands stecken. Die USA hingegen bewegten ihre vollmotorisierte Streitmacht nach Belieben durch die Sahara und kreuz und quer über den Pazifik – gleichzeitig.

1901: Der erste grosse Ölfund in Texas (USA). Aus dem Bohrturm wurde später das Spindletop-Ölfeld.
Foto: Bettmann Archive

Dieses Schauspiel malten sich unsere Vorfahren wohl nur in den wildesten Träumen aus: Maschinen bekämpften sich über grosse Distanzen mit einer riesigen kinetischen Energie, angetrieben von einem Saft aus Tieren und Pflanzen der Urzeit.

Wohlstandsgesellschaft dank Pipelines

Laut dem Schweizer Klimahistoriker Christian Pfister (78) ermöglichte erst dieser Energieträger unsere Wohlfahrtsgesellschaften. Musste Kohle teuer abgebaut werden, sprudelte Erdöl, einmal angebohrt, von selbst an die Oberfläche. Ab den späten 1950ern wurde der Westen nicht nur mit spottbilligem Öl überschwemmt, sondern auch mit Erdgas. Die neuen Pipelines und Tankerrouten vom Nahen Osten nach Europa wurden zu den Lebensadern des vor Energie pulsierenden Kontinents. Zusammen mit der neuen Atomenergie, die sich wegen ihrer hohen Kosten jedoch nicht ausserhalb von Kraftwerken durchsetzte, erlaubte dieser geballte Mix die breitflächige Elektrifizierung der Haushalte und den Aufstieg der Luftfahrtindustrie.

Der Wagen der amerikanischen unteren Mittelklasse: Der Ford Pinto (Bild: 1974).
Foto: Getty Images

Doch schon bald zeigten sich die Schattenseiten des schwarzen Goldes. Da sich der grösste Vorrat im Mittleren Osten befand, gingen die USA und in ihrem Fahrwasser Westeuropa fragwürdige politische Allianzen ein, etwa mit den Autokratien Arabiens. Die wollten 1973 Erdöl als Waffe nutzen und setzten den Westen auf Entzug, um ihn zur Abkehr vom Feind Israel zu bewegen. Eine schwere Rezession war die Folge, doch der politische Wille des Westens siegte über die Abhängigkeit. Frankreich baute seine Atomindustrie aus, Deutschland setzte auf Öl und Gas aus der sich öffnenden Sowjetunion – eine Strategie, die sich nun rächt.

Doch die grösste Bedrohung der Menschheit sind inzwischen nicht mehr entfesselte Diktatoren, sondern die Folgen unseres gigantischen Energiekonsums. Auch wenn der Kohleabbau ganze Landschaften verformte und der grosse Londoner Kohle-Smog im Winter 1952 12'000 Menschen tötete – existenziell ist es laut Christian Pfister erst mit dem Erdöl geworden. Stieg die CO2-Konzentration in der Luft von 1900 bis 1957 um sechs Prozent an, ist sie seither um weitere 30 Prozent angeschwollen. Nun sehen wir die ersten Folgen: braune Sommer und graue Winter.

Vorne: Der Crosby Beach nahe Liverpool, England. Hinten: Eine Windkraftanlage.
Foto: Getty Images

Will die Menschheit die Erde nicht in ein Treibhaus verwandeln, muss sie sich schleunigst von dem Stoff verabschieden, der ihr die kühnsten Träume möglich gemacht hat. Sie steht vor der Herausforderung, zu Sonne, Wind und Wasser zurückzukehren, ohne sich die Fesseln der Vergangenheit wieder anzulegen. Bereits sehen wir, wie die nächste Energierevolution das Gesicht der Erde ein weiteres Mal verändert: Solarparks und Windräder werden zu den menschlichen Landmarken des neuen Jahrhunderts.

Vielleicht denken wir in diesem Winter, wenn wir etwas kürzer duschen und die Kippschalter an den Stromleisten für einmal benutzen, etwas bewusster über diese Ressource nach, die uns aus der Kälte und Dunkelheit holt und vorwärtsbringt. Energie ist ein Segen. Doch gehen wir nicht sorgsam mit ihr um, könnte sie zu unserem grössten Fluch werden.

Vaclav Smil, Energy and Civilization. A History. 2018. ca. 450 Seiten.

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