Auf einen Blick
- Frontotemporale Demenz verändert alles
- FTD trifft oft Menschen im mittleren Alter
- Über 150'000 Demente in der Schweiz
Franz M. führt ein geregeltes Leben. Er ist Ehemann, mehrfacher Vater und Zahnarzt mit eigener Praxis. Bis es ungeregelt wird. Jeden Sonntagabend oder in aller Herrgottsfrühe unter der Woche fährt er in sein Büro, das in der Praxis liegt. Er will sich auf die Arbeit vorbereiten, sagt er seiner Familie. Was diese nicht weiss: Franz M. leert dort unzählige Flaschen Wein, schluckt Schmerzmittel, schaut exzessiv Pornofilme. Auch seine Arbeit leidet. Franz M. wird zu einem «Flickzahnarzt», wie es Ehefrau Silvia nennt. Zahnmedizinische Eingriffe, die Geld einbringen, macht er nicht mehr. Er repariert nur noch Zähne. Mehr schlecht als recht. Jede Woche stehen Patientinnen und Patienten in der Praxis und klagen: Die Füllung hält nicht! Und Franz M. behauptet: «Nein, das kann nicht sein!» Irgendwann bleibt auch die Post ungeöffnet auf Stapeln liegen, und er zahlt keine Rechnungen mehr.
Lange weiss die Familie nicht, was mit Franz M. los ist. Auch der Hausarzt nicht. Erst als eine Bekannte das Wort Demenz fallen lässt, ergibt für Ehefrau Silvia plötzlich alles Sinn. Mit 58 Jahren erhält Franz M. endlich die Diagnose: Frontotemporale Demenz (FTD).
Die Geschichte von Franz M. und seinen Angehörigen ist eine von einem Dutzend aus dem Buch «Mitten im Leben und dement», das gerade erschienen ist. Die Sozialarbeiterin Margrit Dobler hat sie alle aufgeschrieben. Seit vielen Jahren leitet sie Selbsthilfegruppen für Angehörige von FTD-Erkrankten. Sie sagt gegenüber Blick: «Sogar unter Ärzten kennen viele die Krankheit nicht.» FTD ist nicht irgendeine Demenzform. Es ist jene, die häufig Menschen ab dem mittleren Alter trifft. Männer und Frauen mit Kindern im Teenager-Alter. Die Jüngste, von der Dobler weiss, war bei der Diagnose 38. Und diese Form beginnt meist nicht mit Vergesslichkeit. Auch deshalb bleibt die Krankheit lange unerkannt.
Demenz-Diagnosen nehmen zu
Unsere Gesellschaft wird immer älter. Mehr Menschen erkranken an Demenz. Schon heute gehört sie zu den häufigsten Todesursachen älterer Leute und ist der häufigste Grund für deren Pflegebedürftigkeit. Laut Alzheimer Schweiz leben rund 156’900 demente Personen in der Schweiz, jedes Jahr kommen 33’800 neue Diagnosen dazu – also alle 16 Minuten eine. Schätzungsweise 10 Prozent von ihnen leiden an FTD.
Das berühmteste Beispiel für einen FTD-Betroffenen ist Bruce Willis (69). 2022 musste der Held aus «Stirb langsam» wegen der Krankheit seine Schauspielkarriere beenden. Erst fand er Wörter nicht mehr, bald konnte er kaum mehr sprechen. Bei anderen verändern sich zudem das Sozialverhalten und die Persönlichkeit. Betroffene werden antriebslos, verlieren ihre Hemmungen und Empathie, entwickeln Zwänge und Süchte. Das hat mit der Region im Hirn zu tun, in der die Nervenzellen absterben: über der Stirn und hinter den Schläfen. Über die Zeit entstehen dort richtige Löcher im Nervennetzwerk, ähnlich wie bei einem Schwamm.
Margrit Doblers Buch zeigt nun zum ersten Mal: Auch die Angehörigen sind Betroffene. Sie sagt: «Oft glauben die Fachleute den Angehörigen nicht.» Menschen mit FTD könnten sich anfangs gegen aussen gut beherrschen. Oft dauere es mehrere Jahre, bis eine Diagnose vorliege. Deshalb das Buch. Margrit Dobler will aufklären. Das gelingt ihr mit berührenden Angehörigen-Interviews und Beiträgen von Fachleuten, die mit den Erkrankten arbeiten.
Plötzlich mit allem alleine
Ali und Caroline waren lange ein glückliches Paar. Und glückliche Eltern zweier Kinder. Ali war Agrarökonom, beim Bund für Forschungsprojekte zuständig, sie war Psychologin. Dann beobachtete sie bei ihm 2018 die ersten Symptome, Ali war 50. Er konnte nicht mehr einschlafen, wenn die Storen runtergelassen waren, hatte plötzlich Platzangst in Kinos und in Tunneln. Er zog sich emotional zurück. Über den weiteren Fortgang sagt Caroline: «Das verlief alles sehr schleichend.»
Dann, eines Morgens im Frühling 2021, sagt Ali ihr, dass er seinen Büroschlüssel und Computer am Arbeitsplatz abgeben muss. Warum, ist unklar. Sie ruft bei seinem Chef an und erfährt: Ali wurde entlassen. Es ging nicht mehr. Und Caroline muss hart dafür kämpfen, dass die Kündigung aufgehoben und in eine Krankschreibung mit anschliessender IV-Rente umgewandelt wird. Sonst, so Caroline, hätte es für die Familie ein «finanzielles Desaster» gegeben.
FTD verändert alles, was war. Den Alltag. Die Familie. Die Liebe. Plötzlich werden die Angehörigen zu Pflegenden. Mehr noch. Sie müssen auf einen Schlag die ganze Last mit Kindern, Geldverdienen, Hausarbeit und der kranken Person schultern. Und zusehen, wie der Mensch, den sie kannten und lieben, langsam verschwindet. Ali verhalte sich heute ihr gegenüber wie ihr «kleines Baby», sagt Caroline. Er muss sie immer im Blick haben, sucht stark ihre Nähe. Wenn sie im Haus sei, laufe er ihr nach wie ein Hündchen. Sie gibt viel. Doch, sagt sie: «Es ist eine sehr einseitige Beziehung, von ihm kommt nicht viel zurück.»
Sozialarbeiterin Margrit Dobler sagt: «Oft versuchen die Angehörigen, alleine mit der Situation klarzukommen.» Aus Scham, weil sich die betroffene Person gegenüber anderen manchmal unmöglich verhält, holen sie erst mal keine Hilfe.
Die Kinder trifft es besonders
Und dann sind da noch die Kinder. Sie sind besonders betroffen. So auch in der Familie K. mit Vater Martin und den mittlerweile erwachsenen Töchtern Jill und Kim. Sie waren erst 12 und 14, als die Mutter mit 49 an FTD erkrankte. Anfangs verstanden sie nicht, warum die Mutter oft und heftig mit dem Vater stritt, warum sie fremde Menschen auf der Strasse mit kruden Sätzen überrumpelte: «Wow, hast du blaue Augen, bist du schwanger?» Bald wuchsen sie mit dem Vater zu einem Team zusammen, das sich um die Mutter kümmerte.
Kinder und Jugendliche, die innerhalb der Familie eine Betreuungsaufgabe übernehmen – das gibt es häufig. Young Carers heisst das Phänomen. Laut einer Studie von der Careum Hochschule Gesundheit gehören in der Schweiz 8 Prozent der Kinder im Alter zwischen 10 und 15 Jahren zu ihnen. Sie übernehmen viel Verantwortung. Zu viel. Margrit Dobler sieht das häufig. Sie sagt: «Es ist nicht normal, dass beispielsweise eine 20-Jährige den Vater duscht, weil die Mutter zur Arbeit muss.» Doch es geschieht aus der Not heraus.
Frontotemporale Demenz verändert die Persönlichkeit und den Alltag. Die Probleme nehmen kontinuierlich zu und wandeln sich über die Zeit. Die Folgen davon überfordern Angehörige zwangsläufig. Bei Verdacht auf die Erkrankung oder nach der Diagnose sollte man sich rasch Hilfe holen. Tipps und Informationsbroschüren erhält man bei Alzheimer Schweiz. Dort weiss man über spezielle Memorykliniken und Selbsthilfegruppen Bescheid. Anlaufstellen sind zudem auch Pro Senectute sowie die eigene Krankenkasse.
Frontotemporale Demenz verändert die Persönlichkeit und den Alltag. Die Probleme nehmen kontinuierlich zu und wandeln sich über die Zeit. Die Folgen davon überfordern Angehörige zwangsläufig. Bei Verdacht auf die Erkrankung oder nach der Diagnose sollte man sich rasch Hilfe holen. Tipps und Informationsbroschüren erhält man bei Alzheimer Schweiz. Dort weiss man über spezielle Memorykliniken und Selbsthilfegruppen Bescheid. Anlaufstellen sind zudem auch Pro Senectute sowie die eigene Krankenkasse.
In der Schweiz fehle es an Institutionen, die für FTD-Betroffene geeignet seien, sagt Dobler. Sie bräuchten eine 1:1-Betreuung und Pflegende, die sich mit der Krankheit auskennen. Sie weiss von einem 46-Jährigen, den man aus Mangel an Alternativen in einem gewöhnlichen Alterspflegeheim unterbringen musste.
Am Ende wartet der Tod
Für Familie K. wurde es bald nach der Diagnose richtig schwierig. Martin, Jill und Kim konnten die Mutter nicht mehr alleine lassen. Ging sie aus dem Haus, liess sie die Tür sperrangelweit offen. Mehrmals stand die Waschküche unter Wasser, weil sie zu viel Waschpulver eingefüllt hatte. Martin K. sagt: «Der Druck auf uns nahm stetig zu.» Bis er zu gross wurde. Die Familie entschied sich für eine Heimbetreuung.
Der Schritt fiel ihr schwer. Am Tag, an dem Martin K. seine Frau in eine auf Demenz spezialisierte Einrichtung brachte, war er aufgewühlt. Er sagt: «Man weiss, es ist die letzte Station. Die Beziehung und das Familienleben, wie wir es kannten und gelebt haben, ist zu Ende. Im Auto habe ich zuerst einfach nur geheult, bevor ich losgefahren bin. Nachher fällt man in ein Loch; zugleich weisst du, du musst arbeiten, du hast Töchter in der Pubertät, um die du dich kümmern musst.»
FTD ist unheilbar. Wie jede Demenzform. Die Betroffenen können irgendwann nicht mehr essen und trinken, sie trocknen aus. Und sie verschlucken sich ständig, Speichel gelangt in die Atemwege und löst oft eine Lungenentzündung aus. Am Ende des Weges wartet der Tod. Mutter K. verstarb fast auf den Tag genau sieben Jahre, nachdem Martin K. sie ins Heim gebracht hat. «Ihr Körper hat nicht mehr mitgemacht.»
Margrit Dobler, «Mitten im Leben und dement», Rüffer & Rub Sachbuchverlag, 34 Franken