«Meine Tochter hat kürzlich zu mir gesagt: Papa, du redest nur noch von Blessem und hörst gar nicht mehr zu.» Helmut Zimmermann (84) sitzt an einem Tag Ende Oktober auf dem Sofa in seiner gemütlichen Stube. Doch Zimmermann ist nur auf Besuch in seinem Haus: Sein Keller ist gesperrt, die Heizung kaputt. Zurzeit wohnen er und seine Frau provisorisch bei der Tochter.
Das Jahrhunderthochwasser in Deutschland diesen Sommer hat ihnen wie Tausenden anderen das Zuhause genommen.
Seit fast einem halben Jahrhundert lebt Zimmermann in Blessem; dem Ortsteil von Erftstadt bei Köln, der vor bald vier Monaten weltweit auf Titelseiten prangte, 16 Jahre lang diente Zimmermann als Ortsbürgermeister. Im Wohnzimmer hängt eine Urkunde der Bundesverdienstmedaille, die er für sein Engagement in der Gemeinde erhielt. Auf einem Tischchen lächeln eingerahmt seine zwei Kinder, daneben steht ein Hochzeitsfoto, seit 60 Jahren ist er mit seiner Irmgard verheiratet. Er leitete viele Jahre Spielwarenabteilungen in Kaufhäusern, seine Frau betrieb eine Boutique für edle Damenmode.
Erinnerungen an ein langes Leben. Ein Leben, in dem es ein Davor und ein Danach gibt. Seit der Nacht auf den 15. Juli ist in Blessem nichts mehr, wie es einmal war. Zimmermann hat sein Zuhause verloren – zumindest für die nächste Zeit.
Ein Wunder, dass niemand starb
Eine Flutwelle bahnte sich ihren Weg durch den Ortsteil mit 1900 Einwohnern. Das Wasser füllte zuerst die örtliche Kiesgrube, dann sackte plötzlich der Boden rundherum weg. Ein Krater entstand, über zehn Meter tief. Mehrere Häuser stürzten in den Abgrund, Autos wurden weggespült, Kanalisationsrohre freigelegt. Blessem und das Bild des Kraters wurden zu Symbolen des Hochwassers. Noch immer können die Menschen hier kaum glauben, dass niemand gestorben ist.
Mittlerweile ist das Wasser weg, der grösste Teil des Schutts und des Schlamms ebenso. Doch in den Köpfen der Menschen gibt es kein anderes Thema als das Hochwasser. Manche Häuser müssen abgerissen werden, rund 700 brauchen Renovationen, dazu kommen kaputte Strassen oder Sportplätze. Der Wiederaufbau ist ein langer Prozess und die Bürokratie der staatlichen Hilfsgelder kompliziert, wie das SonntagsBlick Magazin berichtet.
Zimmermann weiss noch nicht, wann genau er wieder zurück in sein Haus kann. Der Winter naht, Handwerker fehlen überall. Vor der Flut, wenn er nicht schlafen konnte, ging er runter in den Keller und setzte sich an sein E-Piano. «Das fehlt mir einfach. Ich habe keinen Auslauf mehr», sagt er.
Schaffen ältere Menschen den Neuanfang?
Selbst wenn die Menschen zurück in ihre Häuser dürften: Das Wasser hat Leben weggeschwemmt. Fotoalben, Kleider, vererbte Möbelstücke, Kinderzeichnungen. Die Dorfkneipe ist bis auf weiteres geschlossen, viele Vereinslokale sind kaputt, die Turnhalle, wo Schüler und Senioren turnten ebenso. Manche fragen sich in Blessem: Schaffen es die Menschen, besonders die älteren, nochmals neu zu beginnen?
Der Schritt in die Zukunft ist schwierig, vieles erinnert an die Flut. An den Hausmauern prangen rot gesprayte Kreuze der Feuerwehr – sie markierten, wenn alle Bewohner gerettet waren. Ein paar Strassen neben Zimmermanns Haus versucht eine Frau, das Kreuz wegzuschrubben.
Die Glocken schlagen zwölf Mal, vor der Kirche schöpft Ellen Klütsch (62) Chili con Carne in Teller und Tupperware. Seit der Flut und noch bis Ende Jahr ist hier der Treffpunkt des Dorfs. Jeden Mittag treffen sich Menschen. Eigentlich arbeitet Klütsch im Krankenhaus, doch das ist derzeit geschlossen. Also nutzt sie ihre Zeit zum Helfen. «Es ist heftig, was passiert ist. Aber wir müssen da durch. Wegziehen können wir nicht, wollen wir nicht», sagt sie.
Einmal habe ihr jemand gesagt, sie sei immer so gut gelaunt. Sie habe geantwortet: «Es hilft mir ja nicht, wenn ich traurig bin.» Der Redebedarf unter den Menschen ist riesig, Klütsch hört immer wieder, dass manche nachts nicht mehr schlafen, wenn es regnet. Andere zucken zusammen, sobald sie einen Helikopter hören. Auf den Tischen kleben Zettel mit einer Telefonnummer für psychologische Begleitung.
Im Dorf ist kürzlich ein alter Mann mit einer Herz-Vorerkrankung beerdigt worden. Er habe immer wieder gesagt, dass er den Wiederaufbau nicht schaffe. «Gestorben an einem gebrochenen Herzen», sagt ein Anwohner.
Gemeinsam verarbeiten
Die Heimat wurde weggespült, aber die Menschen sind geblieben. Der Zusammenhalt in Blessem ist gross, gemeinsam lässt sich der Schrecken besser ertragen. Klütsch sagt: «Ich verarbeite, indem ich hier helfe.»
Das gilt auch für den alten Ortsbürgermeister Helmut Zimmermann. Zusammen mit Kollegen des Bürgerforums, die ein Spendenkonto einrichteten, versucht er, den Wiederaufbau unbürokratisch voranzutreiben. Sie kaufen Baumaterial, lagern es in seiner Garage und verteilen es an Betroffene. Das sind kleine Gesten, doch den Menschen gibt es Hoffnung.
«Man muss den Leuten einfach sagen: Alles wird gut, es wird schöner als vorher», sagt Zimmermann. Er hegt die Idee, dass dort, wo der Krater klafft, irgendwann eine Auenlandschaft entstehen könnte. Er wolle davon eine Zeichnung skizzieren lassen für den Jahreskalender, den das Bürgerforum an alle Einwohner verteilt.
«Es wird alles schöner», wiederholt er.